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Text von Donnerstag, 31. Januar 2002


Forscher: Ethik auf der schiefen Ebene

Marburg * (FJH)
Es darf geforscht werden. Die Befürworter einer nahezu unbegrenzten Freiheit von Forschung und Lehre haben sich wieder einmal durchgesetzt. Der Deutsche Bundestag hat am Mittwoch (30. Januar) den Import embryonaler Stammzellen unter eng eingegerenzten Bedingungen gebilligt; und schon stehen Vertreter der Pharma-Industrie mit neuen Forderungen auf der Matte: Es dürfe keine restriktiven Kontrollen und keine aufwendigen Genehmigungsverfahren geben.
Die "Bedenkenträger" im Hohen Haus hatten großenteils einem "Kompromissantrag" zugestimmt, den die SPD-Politikerin Margot von Renesse vorgelegt hatte. Auch Bundeskanzler Gerhard Schröder hat sich für diese Regelung stark gemacht: Importiert werden dürfen demnach nur embryonale Stammzellen, die "überzählig" sind.
Den "Standort Deutschland" und die "Zukunftsfähigkeit der Forschung" sahen viele in Gefahr, wenn kein Import dieses biologischen Materials möglich wäre. Von Experimenten an embryonalen Stammzellen versprachen sie sich Heilungschancen für lebensbedrohliche Krankheiten wie beispielsweise Krebs. Was die Manipulation an menschlichem Erbgut ihren Betreibern verspricht, das kann man noch nicht in Euro und Cent ausrechnen, aber es dürften wohl Millionenbeträge sein. Wer einmal mit Eingriffen in den Bauplan menschlichen Lebens beginnt, der gerät auf einer schiefen Ebene ins Rutschen, warnte am 28. Juni der Philosoph Jürgen Habermas in der Aula der Alten Universität. Auch Robert Antretter, Bundesvorsitzender der Lebenshilfe, will wenigstens einen klaren Kriterienkatalog für die Stammzellforschung festgeleg wissen. Wiederholtgab er die Einwände aus Sicht der Behinderten zu Protokoll: Hinter dem Wunsch, das Erbgut "korrigieren" zu wollen, steht ein Verständnis von Menschen als Maschine, die reibungslos zu funktionieren hat. Krankheiten sind demnach Fehler, die "ausgemerzt" gehören.
Warum schafft man nicht gleich die Behinderten ab? Und war es nicht ein Arzt, der vom "sozialverträglichen Früh-Ableben" alter Menschen sprach?
Der Respekt vor dem Leben jedes Menschen - auch der Alten und Behinderten - gebietet mehr Gründlichkeit bei der Debatte um die Freiheit von Forschung. Schließlich darf nicht erlaubt sein, was Josef Mengele einst in Auschwitz konnte: "Verbrauchende Forschung" an "menschlichen Material"!
Habermas hat Recht: Wer einmal anfängt, kommt auf der schiefen Ebene von Kapital- und Forscherinteressen ins Rutschen. Heute sind es noch Stammzellen, morgen Menschen! Ernst-Ludwig Winnacker, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), ändert seine Meinung immer danach, was ihm rechtlich durchsetzbar scheint: Vor zwölf Jahren sprach er sich noch strikt gegen die Stammzellenforschung aus, heute befürwortet er sie. Was wird er wohl morgen fordern?


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