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Text von Montag, 29. July 2002


Krank: Die Merkantilisierung der Medizin

Marburg * (FJH)
"Wir pflegen unsere Gesundheit auf Kosten der Armen in den Ländern des Südens und des Ostens", stellte Christa Wichterich fest. Die Bremer Publizistin hat ein "globales Apartheidsystem der Medizin" ausgemacht. Im Rahmen der ATTAC-Sommerakademie diskutierte sie am Sonntag (28. Juli) im Auditorium Maximum der Philipps-Universität mit Hans-Ulrich Deppe, dem Direktor des Instituts für medizinische Soziologie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt und der Ärztin Ligia Giovanella aus Rio de Janeiro über "Gesundheit - Solidargemeinschaft oder Privatisierung".

[ATTAC-Poster]

Wichterich kritisierte die mangelnde Solidarität der Geschlechter bei der Pflege von Kranken, Alten und Behinderten. 71% der 4,1 Millionen Beschäftigten im bundessdeutschen Gesundheitssystem sind Frauen. Pflege und Sorge werden hauptsächlich von Frauen geleistet, oft unentgeltlich in der Familie oder ehrenamtlich in karitativen Organisationen. Für die Besetzung der bezahlten Dienstleistungsjobs im Pflegebereich werde mehr und mehr auf ausländische Helferinnen zurückgegriffen. Kamen sie früher aus Korea, so stammen sie heute meist aus osteuropäischen Ländern.
Es gebe eine weltweite Migration in den Gesundheitsberufen. Ärzte und Krankenschwestern, die in Ländern der "3. Welt" ausgebildet wurden, wandern häufig in reichere Länder aus, wo sie bessere Lebenschancen erwarten. So kommt es auch zu einem Gefälle in der Gesundheitsversorgung. In Deutschland kommen 250 Patienten auf einen Arzt; in Indien sind es 2.500 und in den ärmsten Entwicklungsländern 25.000!
Ligia Giovanella stellte das brasilianische Gesundheitssystem vor, das allen Bürgerinnen und Bürgern eine staatlich finanzierte Behandlung garantiert. Es sei nach dem Ende der Diktatur erkämpft worden, müsse nun aber ausgebaut und verteidigt werden.
Deppe verglich die verschiedenen Gesundheitssysteme miteinander. Keines komme ganz ohne staatliche Finanzen aus. Das teuerste Gesundheitssystem sei das der USA, das durch massive staatliche Programme für die Armen flankiert werden muss.
Im deutschen Gesundheitswesen droht ein Abbau sozialer Standards. Allgemein wird immer von einer Finanzierungslücke gesprochen. Gesundheit sei zu teuer. Tatsächlich ist aber der Anteil der Kosten für Gesundheit am Bruttosozialprodukt seit den 50er Jahren nicht gestiegen. Immer noch beträgt er 6 %. Die Finanzierungslücke entsteht vielmehr durch die hohe Arbeitslosigkeit, da die Beiträge zur Krankenversicherung aus den Löhnnen finanziert werden.
Derzeit wird in allen Parteien über eine "Reform" des Gesundheitssystems diskutiert. Zur Debatte stehen dabei höhere Zuzahlungen und eine Einschränkung der freien Arztwahl. Genauere Pläne liegen aber nicht auf dem Tisch. Doch es gibt Überlegungen, die Krankenversicherung analog der Rente teilweise auf eine private Finanzierungssäule zu stellen. Gegen einen Abbau der Gesundheitsversorgung demonstriert ATTAC am 14. September in Köln unter dem Motto "Gesundheit ist keine Ware - her mit dem schönen Leben!"


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