Text von Donnerstag, 3. Oktober 2002
Marburg * (FJH)
Der Geruch von Benzin lag in der Luft. Knatternde Zweitaktmotoren spotzten an den Ohren der Passantinnen und Passanten vorbei. Die Stadt war von von "Ossis", die ihre neue Freiheit genssen und gen Westen gereist waren. So war es einmal, an den Adventswochenenden des Jahres 1989. Von dieser Aufbruchsstimmung ist am Donnerstag (3. Oktober) nichts mehr übrig. Die Stadt ist leer. Den "Tag der Deutschen Einheit" begehen nur einige Festtagsredner. Die normale Bevölkerung hingegen genießt ihre Freiheit und verreist gen Süden. Wer kann, der entflieht dem bedröppelten Wetter. Ohnehin haben die Schulen in Hessen Herbstferien, und die Marburger Universität räkelt sich in den letzten Zügen ihrer vorlesungsfreien Zeit. Feierlich geht es in Marburg an diesem Feiertag wohl wirklich nicht zu. Dennoch: Die Deutsche Einheit ist gewachsen. Gerade in der Not, als die Fluten der Elbe sächsische und anhaltinische Dörfer und Städte überspülten , da rückten die Deutschen enger zusammen. Bürgerinnen und Bürger, Vereine und Feuerwehren, Firmen und Behörden im Landkreis Marburg-Biedenkopf krempelten die Ärmel hoch und halfen. Lastwagenladungen mit Möbeln und Haushaltsgeräten wurden in den sächsichen Landkreis Delitzsch gebracht, wo Vereine und Behörden sie an Bedürftige verteilt haben. Geld wurde gesammelt, damit notwendige Reparaturarbeiten an der Förderschule für Lernbehinderte in Eilenburg durchgeführt werden konnten. So festigen die Bewohnerinnen und Bewohner des Landkreises Marburg-Biedenkopf die Deutsche Einheit. Derweil unterwandern Sachsen, Thüringer, Mecklenburger, Brandenburger und Berliner heimlich die mittelhessische Universitätsstadt. Hier und da begegnet man ihnen in der Nachbarschaft, in Geschäften und Ämtern. Langsam leben sie sich hier ein und passen sich an. Schon schauen auch sie maulig auf, wenn Kundschaft das Geschäft betritt und sie beim Thekenschlaf stört; schon rennen sie eilig vorbei, wenn ein Blinder auf der Straße nach Hilfe fragt. Sie sind halt schon waschechte Marburger geworden, griesgrämig und egoistisch. Ganz so schlimm kann es dann doch nicht sein mit den vielen tausend Ich-AGs, die nur an sich selber denken: Immerhin belegt die Welle der Hilfsbereitschaft für die Flutopfer, dass auch in Marburg noch ein Rest an Solidarität vohrhanden sein muss. Hoffen wir also, dass diese Hilfsbereitschaft auch ohne Katastrophen weiterlebt! Schließlich war es eben dieser Gemeinschaftsgeist, der das schier Unmögliche Wirklichkeit werden ließ. "Wir sind das Volk!", riefen sie und gingen mutig auf die Straße. Einigkeit macht stark. So gelang, was kaum jemand für möglich gehalten hatte. Doch wo sind jene mutigen Menschen heute, die sich schon vor 1989 in der Bürgerbewegung der damaligen "Deutschen Demokratischen Republik" (DDR) für die Wende eingesetzt haben? Kommen sie an diesem "Tag der Deutschen Einheit" überhaupt noch vor? Wenn die Wiedervereinigung Deutschlands etwas lehrt, dann ist es die Notwendigkeit des mutigen Einsatzes für Gerechtigkeit und Demokratie sowie der - im Osten glüclicherweise immer noch blühenden - Solidarität der Menschen untereinander. Nehmen wir uns also ein Beispiel an ihnen! |