Text von Sonntag, 10. Dezember 2006
Keine Ahnung: Was bedeutet Leben in Armut? | ||
Marburg * (ule)
"Wer arm ist, muss nicht zwangsläufig ein schlechtes Leben führen." Mit diesem Kommentar tat Erster Kreisbeigeordneter Dr. Karsten McGovern am Mittwoch (6. Dezember) die Ergebnisse der ersten europaweiten Armuts-Studie leichtfertig ab. Die Studie offenbart, dass 13 Prozent aller in der Bundesrepublik lebenden Menschen arm oder zumindestens armutsgefährdet sind. Solcherlei Untersuchungen müssen nicht jeden interessieren. Und es muss sicherlich auch nicht jeder in gleicher Weise erschrocken über ihre Ergebnisse sein. Ein Sozialdezernent wie McGovern aber sollte zumindest halbwegs darüber informiert sein, womit sich sein Dezernat den lieben langen Tag über beschäftigt. Im Landkreis Marburg-Biedenkopf beläuft sich die Zahl der Betroffenen auf 20.000. Cash auf die Hand heißt das. 20.000 Menschen müssen mit weniger als 856 Euro im Monat auskommen. Wenn man die Zahlen der Studie auf den Landkreis herunterbricht, müssen 14 Prozent von ihnen an Heizkosten sparen. 22 Prozent leben in feuchten Wohnungen. Mehr als ein Viertel haben nicht genug Geld für regelmäßige Mahlzeiten. Sie können sich nicht mindestens jeden zweiten Tag eine hochwertige Mahlzeit leisten. Jeder Fünfte verzichtet trotz gesundheitlicher Probleme auf einen Arzt-Besuch, weil Praxis-Gebühren und Medikamente nicht zu bezahlen sind. Mehr als die Hälfte können sich eine einwöchige Urlaubsreise pro Jahr nicht leisten. Und 80 Prozent stellen fest, dass sie mit ihrem Einkommen "gerade so", "schlecht" oder "sehr schlecht" zurechtkommen. Wer schlecht mit seinem Geld zu Recht kommt, konnte früher die "Marburger Tafel" besuchen und für wenig Geld die dort angebotenen ablaufenden Lebensmittel kaufen. Seit einiger Zeit geht auch das nicht mehr so problemlos. Mit 1.300 regelmäßigen Gästen hat sich die Zahl seit der Gründung 2001 fast verzehnfacht. Dadurch stößt die "Tafel" so sehr an ihre Grenzen, dass bis Mitte April weitere Kunden nicht aufgenommen werden können. Wer sich vor diesem Hintergrund so unsensibel und zynisch über Armut äußert, wie McGovern es tut, disqualifiziert sich selbst - noch dazu als Sozialdezernent! Fast schon zwangsläufig drängt sich die Frage auf, ob es nicht geeignetere Kandidaten für die Leitung seines Dezernats gäbe und ob McGovern nicht besser in die Arbeitslosigkeit entlassen werden sollte. Dann müsste er mit dem Regelsatz eines Hartz IV-Empfängers auskommen. Er könnte seine Wohnung nicht ausreichend heizen, würde an der "Marburger Tafel" abgewiesen und von seinem Sachbearbeiter schikaniert. Ganz sicher käme der Grünen-Politiker dann zu einer anderen Einschätzung: Wer arm ist, muss zwangsläufig ein menschenunwürdiges Leben führen! Aus Erfahrung wissen die Menschen aber, dass Politiker viel weicher fallen als Otto-Normalverbraucher. Ihre soziale Situation wird abgesichert durch hohe Pensionen und lukrative Nebenjobs. Und sollten sie tatsächlich einmal arbeitslos werden, dann dauert das nie so lange, dass sie Hartz IV beziehen müssen. | ||
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