Text von Montag, 20. November 2006
Verschärfung: Woher kommt die Gewalt? | ||
Marburg * (fjh)
Die Alarmsignale häufen sich. Ein 18-jähriger geht in Emsdetten in seine ehemalige Schule und schießt wild um sich. In Siegburg foltern drei Häftlinge ihren Zellengenossen stundenlang unbemerkt und bringen ihn schließlich um. Aufgeschreckt durch diese Taten, ist nun eine heftige Debatte über Gewalt in der Gesellschaft entbrannt. Doch die wesentliche Frage stellen nur wenige: Ist nicht diese Gesellschaftsstruktur selbst voll von subtiler und offener Gewalt? Bezieher des Arbeitslosengeldes II (ALG II) werden durch staatliche Gesetze unter Generalverdacht gestellt, sie wollten den Staat nur schröpfen. Allerlei Daumenschrauben legt man ihnen an, um möglichst viele von ihnen aus dem Leistungsbezug hinauszudrängen. So quetscht man Menschen regelrecht an die Wand! Beschäftigte werden von den Geschäftsleitungen großer Firmen einfach hinausgeworfen, um die Bilanzen zu schönen. Keiner fragt dabei, welche Folgen diese Entlassung für die einstigen Leistungsträger haben wird! Kranke werden abgezockt. Auch Heimbewohner müssen noch zehn Euro Praxisgebühr im Quartal entrichten, selbst wenn sie nur über wenige Euro Taschengeld verfügen! Die Zahl der überschuldeten Haushalte hat in Deutschland dramatisch zugenommen. Während die Geschäfte bei den deutschen Unternehmen zunehmend besser laufen, ist die Zahl der Privat-Insolvenzen sprunghaft angestiegen. Wer nicht zahlen kann, soll blechen: Zinsen, Verzugs-Zinsen, Mahngebühren und die Kosten des Gerichtsvollziehers! In Deutschland gibt es kein wirkliches soziales Netz mehr: Jeder kämpft nur noch um die eigene nackte Existenz! Jeder kämpft gegen jeden. Bei diesem neoliberalen Krieg gegen die Menschlichkeit geben die Reichen den Ton an. Die Politik stimmt mit ein und bildet eine Orchestrierung dazu, die alle leisen Töne lautstark überdröhnt. "Eigenverantwortung" und "Entbürokratisierung" lauten die Titel der Arien, die die Politiker den bedrängten Bürgerinnen und Bürgern immer wieder lauthals in die Ohren hinein krächzen. Wer nicht für sich selber sorgt, der wird "schadlos entsorgt"! Und dann wundern sich die selben Politiker medienwirksam, wenn ein Jugendlicher Amok läuft! Schärfere Kontrollen sind die einzige Antwort, die ihnen auf die Aktion eines ausgegrenzten und hoffnungslosen jungen Menschen einfällt. Ein Verbot brutaler Computer-Spiele erwägen sie auch noch. Die wahren Ursachen aber diskutieren sie nicht. Wahrscheinlich wollen sie sie auch nicht sehen! "Wegsperren für immer!" ist die primitive Parole, die der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder nach der Gewalt-Tat gegen ein Kind einmal formuliert hat. An die Wurzeln des Übels hingegen wagte er sich nicht! Wie er verhalten sich die meisten Verantwortlichen: Entbrennt irgendwo wie beispielsweise in der Berliner Rüthli-Schule Gewalt, dann werden ein paar Beruhigungstropfen in Form kurzatmiger Maßnahmen verabreicht. Den Ursachen hingegen rückt man nicht zu Leibe! Wenn die kleinen Feuer, die überall in der Republik immer wieder einmal aufflackern, nicht gründlich und nachhaltig gelöscht werden, dann wird bald ein furchtbarer Flächenbrand entstehen. Frankreich kann ein Lied davon singen, wie die soziale Misere und die Gleichgültigkeit der Gesellschaft Menschen in die Gewalt treiben! Viele "Linke" beschwören hierzulande "französische Verhältnisse". Sie wünschen sich Tausende entschlossener Demonstrantinnen und Demonstranten auf der Straße. Brennende Autos, heruntergekommene Vorstädte und entwurzelte Jugendliche wollen sie aber sicherlich nicht! Der Ruf anderer Zeitgenossen nach "christlichen Werten" enthält leider auch einige Misstöne: Auch die Kirchen behandeln ihre Beschäftigten nicht immer mit Respekt. Mitbestimmung ist in kirchlichen Einrichtungen häufig tabu. Und auch die Kirchen sparen oft gerade an denjenigen Einrichtungen, die sich um die Armen kümmern. Auch in den Synoden und Kirchentagen haben Arme keine Lobby! Zudem klingt die Forderung nach "Christlichen Werten" sehr unglaubwürdig aus dem Mund einer Ministerin, die in Niedersachsen das Blindengeld abgeschafft und die Behinderten damit an den Rand der Gesellschaft abgedrängt hat! Ursula von der Leyen befürwortet die "Christlichen Werte" als eine Art Gegenwehr gegen den Islam. Mit ihnen bekämpft sie andere Werte und Gesinnungen. Sie setzt angebliche Moral als Waffe gegen andere ein. Was aber ist das dann noch für eine Moral? Ohnehin ist das Wort "Moral" in Deutschland inzwischen ein Fremdwort geworden. Die Apostrophierung als "moralisch" wird gar als Beschimpfung verwandt. "Ethik" ist von den Unternehmen als Strategische Werbe-Parole eingesackt worden, mit der sie ihr unmoralisches Verhalten überkleistern! Menschen müssen funktionieren. Fühlen und fehlen hingegen dürfen sie kaum noch. In dieser gewinnorientierten Gesellschaft spielen Menschen fast keine Rolle mehr! Vereinsamung und Trauer dürften die Erfahrungen gewesen sein, die den 18-jährigen ehemaligen Realschüler aus Emsdetten zu seiner Verzweiflungs-Tat gebracht haben. Er fühlte sich ausgegrenzt, missachtet und alleingelassen. Allmählich sind diese Gefühle bei ihm dann umgeschlagen in Wut und Hass. Verzweifelte Hilferufe soll er über das Internet abgesetzt haben. Doch das hat niemanden gekümmert. Oder niemand hat es ernst genommen. Erst seine Blut-Tat mussten schließlich alle ernst nehmen! Erst brutale Gewalt schreckt die Menschen wie auch die Medien auf. Ansonsten denkt jeder immer nur an sich! Gewalt paart sich in der bundesdeutschen Gesellschaft leider allzu oft mit Gleichgültigkeit. Lieber schaut man weg, als in gewaltträchtigen Situationen dazwischenzugehen. Jeder ist sich selbst der Nächste! Entweder leben die Menschen hier gegeneinander oder aneinander vorbei, selten aber wirklich miteinander. "Solidarität" ist ebenso ein Fremdwort geworden wie "Empathie" oder "Respekt"! Kinder genießen in dieser Gesellschaft schon gar keinen Respekt. Oft strafen selbst die - mitunter überforderten - Eltern ihre Sprösslinge mit Missachtung. Respekt vor den Kleinen, ihren Bedürfnissen und ihrem Recht auf Zuneigung, auf kostenfreie Bildung und auf respektable Vorbilder aber ist in Deutschland leider nur sehr selten festzustellen! Erwachsene solten Vorbild sein. Doch auch sie brauchen ihrerseits wieder Vorbilder. Die meisten Politiker oder Wirtschafts-Bosse sind das absolut nicht. Auch viele Stars aus Funk, Fernsehen und Sport taugen dazu kaum. Also werden die Menschen selbst sich vorbildlich verhalten müssen, um ihren Nachbarn ein Vorbild zu sein! Vorbilder sind keine Heiligen. Sie müssen sich nur bemühen, das zu verwirklichen, was sie selber fordern. Und sie müssen Respekt üben gegen jedermann und jede Frau! Hieran hapert es in der derzeitigen Politik am meisten: Respekt verstehen die meisten Politiker weltweit nur als die Furcht vor Waffen. Konflikte versuchen sie, mit Gewalt zu lösen. Die Ergebnisse dieser untauglichen Versuche kann jeder Interessierte im Nahen Osten, im Irak, in Afghanistan und in Tschetschenien sehen! Gewalt erzeugt nur neue Gewalt. Man kann zwar Menschen unterdrücken, aber die Konflikte werden dadurch nur unter den Teppich gekehrt. Von dort aus machen sie sich dann aber irgendwann wieder explosionsartig Luft! Genauso war das wohl auch mit dem jungen Mann, der mit Pistolen und Granaten in seine ehemalige Schule in Emsdetten gegangen ist. Seine Tat war ein Ringen nach Luft! Vor gewalttätigen Computer-Spielen soll er stundenlang gesessen haben. Auch habe er im Wald Schieß-Übungen veranstaltet, hieß es. An die Waffen sei er über das Internet gelangt. Wie war so etwas überhaupt möglich? Computer-Spiele nun zu verbieten oder den Verkauf von Waffen besser zu kontrollieren, sind jetzt die heißen Forderungen vieler Zeitgenossen. Falsch ist das alles nicht, aber es löst das Problem nicht! Im Internet wäre Gewalt nur durch eine konzertierte Aktion weltweit zu verhindern. Und solange selbst das Öffentlich-Rechtliche Fernsehen in Deutschland noch tagtäglich Gewalt zur wohlfeilen Unterhaltung seines Publikums einsetzt und Krimis mit Morden über Morden ausstrahlt, wäre ein Verbot gewalttätiger Spiele höchstens der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein! Die latent gewalttätige Gesellschaft muss von ihrem Tripp herunterkommen. Statt immer mehr Drangsalierung und immer schärfere Maßnahmen der sogenannten "Sicherheitsorgane" benötigen die Menschen mehr Solidarität, Anteilnahme, Interesse aneinander und Respekt voreinander! "Die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik", hat der Straf- und Völkerrechtler Prof. Dr. Franz-Eduard von Liszt schon 1882 bei seiner Antrittsvorlesung an der Philipps-Universität Marburg formuliert. Inzwischen sollte diese Erkenntnis allmählich doch bekannt sein! Doch die neoliberale Rücksichtslosigkeit greift immer weiter um sich. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Gewalt dieser neoliberalen Unterdrückung der Menschlichkeit entgleist. Noch können die Menschen etwas dagegen tun! | ||
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