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Text von Sonntag, 22. Oktober 2006

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 Alle auf der Straße: Großdemos gegen Sozialabbau 
 Marburg * (ule)
Es ist ein wolkenverhangener Samstagmorgen, als sich um kurz nach 9 Uhr der Parkplatz des Georg-Gassmann-Stadions langsam füllt. Ermutigend trotzen die Fahnen der IG Metall dem lauen Herbstwind. Bunte Blätter wehen verloren über den Parkplatz-Asphalt, als die Demo- Teilnehmer schließlich die Busse besteigen.
Insgesamt mehr als 220.000 Menschen haben sich am Samstag (21.Oktober) an den Groß-Demonstrationen in Berlin, Dortmund, Frankfurt, Stuttgart und München beteiligt. Unter dem Motto "Das geht besser - aber nicht von allein!" hatten der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und dessen Einzel-Gewerkschaften zu einem bundesweiten Protest-Tag gegen die Politik der Großen Koalition aufgerufen.
Noch im Bus beginnen fleißige Gewerkschafter damit, die Mitfahrenden mit dem nötigen Demo-Equipment auszustatten. Dazu gehören die knallroten Pfeifen der IG Metall ebenso wie die Ratschen und Bonbons der Vereinten Dienstleistungs-Gewerkschaft (ver.di).
Auf Initiative des DGB Mittelhessen fahren aus Marburg drei Busse zu der Demonstration nach Frankfurt. Dort angekommen, setzt sich der Menschen-Zug unverzüglich in Gang, um zum Messegelände zu ziehen. Dort befindet sich einer von drei Auftakt-Orten. Zeitgleich versammeln sich die Studenten aus ganz Hessen am Südbahnhof. Ein dritter Demonstrationszug formiert sich am Opernplatz. Zwischen 11.30 und 12 Uhr werden sich die drei Demonstrationszüge durch die Innenstadt auf dem Römerberg zubewegen.
Schon bei der Auftakt-Kundgebung am Messegelände kündigt der IG-Metall-Bezirksleiter Armin Schild an, dass dieser 21.Oktober nicht der Endpunkt, sondern der Auftakt einer Protestbewegung gegen die Reformpolitik der Großen Koalition sei. Um 11.30 Uhr setzt sich der Demonstrationszug am Messegelände langsam, aber entschlossen in Bewegung. Aus den Lautsprechern schallt das Einheitsfront-Lied von Bertolt Brecht. Den Zug führt ein blutrotes Transparent mit der Aufschrift "DGB-Aktionstag - Für faire Reformen" an. Dahinter marschiert neben vielen anderen Stefan Körzell.
Er ist der Bezirksvorsitzende des DGB Hessen-Thüringen. Unter den Demonstranten sind neben den hessischen auch Kollegen aus Thüringen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Die Breite der Demonstrations-Teilnahme spiegelt das Ausmaß der Kürzungspolitik wider. Die Sozial- und Arbeitsmarkt-Politik der Großen Koalition trifft nicht nur eine Generation. Kinder und Jugendliche sind von ihr ebenso betroffen wie Studenten, Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner. Dementsprechend vielschichtig setzt sich der Demonstrationszug zusammen.
Die Stimmung ist kämpferisch. Vom Lautsprecher-Wagen der DGB-Jugend hält ein Vertreter eine kurze Ansprache. Er moniert die miserable Ausbildungs-Bereitschaft vieler Unternehmen.
"Wir wollen nicht in Praktika zwischengeparkt werden und in Übergangs-Maßnahmen die Statistiken schönen. Wir wollen richtige Ausbildungsplätze", schreit er wütend ins Mikrofon. Seine Aussage wird umgehend mit zustimmenden Pfiffen aus unzähligen Trillerpfeifen quittiert.
Wie eine gewaltige Flutwelle bricht sich der Demonstrationszug unaufhörlich seine Bahn durch die Straßen der Frankfurter Innenstadt. Dabei lässt er sich auch von roten Ampeln und sonst unüberquerbaren Hauptverkehrs-Straßen nicht aufhalten. Ein rotes Fahnenmeer ergießt sich förmlich über die Demonstranten. Es wird nur vereinzelt von den blauen Fahnen der Transportarbeiter-Gewerkschaft Transnet "gestört".
Die Transparente spiegeln die Stimmung wider. "Kein Sozialabbau. Ich bin doch schon ne arme Sau" ist auf einem Banner zu lesen. "Schluss mit der Arbeitsplatz-Vernichtung" auf einem anderen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert "Stoppt den Bildungs- und Sozialabbau". Auf einem IG-Metall-Transparent aus Saarlouis steht "Wenn unser starker Arm es will, stehen alle Räder still".
Die DGB-Jugend verlost zum Schein Ausbildungsplätze. "Du bist zu faul für einen Ausbildungsplatz", steht unter anderem auf den Los-Zetteln.
Als der Demonstrationszug schließlich den Untermainkai passiert, schallen über zwei riesige Leinwände bereits die ersten kämpferischen Worte von Stefan Körzell. Mehr als 20.000 Demonstranten strömen auf den Römerberg, der aus allen Nähten zu platzen scheint. Am Rande aufgebaute Informations-Stände einzelner Parteien und Gewerkschaften müssen dem unaufhörlichen Druck der Masse weichen. Der Großteil der Demonstranten macht es sich indes vor den Leinwänden am Mainufer bequem.
Als Klaus Wiesehügel ans Mikrofon tritt, greift er die Sozial- und Arbeitsmarkt-Politik der Großen Koalition scharf und kompromisslos an. Der Bundesvorsitzende der IG BAU kritisiert die Gesundheits-Reform ebenso wie die Null-Runden für Rentner, den steigenden Druck auf die Erwerbslosen wie die Mehrwertsteuer-Erhöhung. Als er schließlich berichtet, dass bundesweit mehr als 220.000 Menschen für eine andere Politik auf der Straße sind, toben die Menschen vor Begeisterung.
Gegen 14.30 Uhr neigt sich die Kundgebung langsam dem Ende zu. Die ersten machen sich allmählich wieder auf den Weg zu ihren Bussen, um die Heimfahrt anzutreten. Das Mainufer lichtet sich ein wenig. Doch die Stimmung eines - für die Gewerkschaften großartigen - Tages ist nach wie vor zu spüren. Auf der Rückfahrt nach Marburg sind die "Reisenden" zwar vereinzelt müde und erschöpft. Doch als noch Unterschriften-Listen gegen längere Ladenöffnungs-Zeiten und den Verkauf der Sparkassen durch den Bus gehen, sind das die Nachwehen dieses 21.Oktober. Der strahlende Sonnenschein des Nachmittags ist längst der Abend-Dämmerung gewichen, als die Busse gegen 17 Uhr den Parkplatz des Georg-Gassmann-Stadions erreichen. Abgeschlagen, aber zufrieden verlassen die Demo-Teilnehmer mit eingerollten Fahnen den Parkplatz.
 
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