Text von Freitag, 20. Oktober 2006
Keine Ursache: Wer hat Schuld an Schulden? | ||
Marburg * (ule)
"In jeder Schuldner-Biographie hat eine Mobilfunk-Firma Platz", hieß es am Donnerstag (19.Oktober) bei der Premiere von "Draußen tobt die Dunkelziffer". Sehr grotesk und mit viel Eigenwilligkeit hat Regisseurin Heike Scharpff das Stück im G-Werk inszeniert. Eine feste Handlung gab es nicht. Vielmehr war die "Dunkelziffer" eine lose und unverbundene Aneinanderreihung einzelner Szenen-Fragmente. Inhaltlich geht es um die Frage, auf welche Weise Menschen Schulden machen und wie es ihnen damit ergeht. Dabei kommen völlig verzweifelte Schuldner ebenso zu Wort wie gefühllose Kredit-Geber, höhnische Finanzbeamte oder mitleidende Angehörige. "Man sollte auf keinen Fall versuchen, einen roten Faden in das Stück zu bringen", soll die Autorin einmal über die 2005 in Wien uraufgeführte "Dunkelziffer" gesagt haben. Weil man ohne roten Faden schnell den Überblick verliert, passt sich hier das Mittel der "Faden-Losigkeit" stilistisch an die Thematik an. Damit soll veranschaulicht werden, wie komplex Finanz-System und Gesellschaft heute sind. Indem sich die Menschen von ihren Wünschen und Bedürfnissen entfremden, verlieren sie zugleich auch den Überblick darüber, was ihre Wünsche und Bedürfnisse sind. Eine glitzernde Waren-Welt gaukelt ihnen vor, was sie angeblich benötigen, um ein vollwertiges und geliebtes Individuum zu sein. Verzweifelte, zerrüttete und verlassene - völlig überschuldete - Menschen sind das Produkt dieses Prozesses. Die Regisseurin hat die "Dunkelziffer" ganz anders in Szene gesetzt als im Theater normalerweise üblich. Bei der Inszenierung ging es ihr vor allem darum, die Tragik der Thematik herauszuarbeiten. Eine Bühne gab es nicht. Das Publikum saß Rücken an Rücken auf zwei langen Stuhlreihen. Die durch zwei Goldwände geschaffene Enge des Raumes schuf eine gewollt bedrückende, fast beklemmende Atmosphäre. Die Darsteller spielten um das Publikum herum. Sie sprachen es direkt an und bezogen es mit ein. Auf diese Weise machten sie es zum Zentrum des Stücks. Sehr schnell wurde klar, dass die Dunkelziffer real ist, dass Menschen wie du und ich dazugehören. Der erste Teil thematisierte durch hastige und abgehakte Szenen-Folgen vor allem die Verzweiflung und Hilflosigkeit überschuldeter Menschen. Der zweite Teil des Stücks galt hauptsächlich der Darstellung ihrer Verlassenheit, ihrer Einsamkeit, ihrer Traurigkeit. Langsam geführte Dialoge und längere Pausen dienten als stilistisches Hilfsmittel. Den fünf Darstellern Mosa Anna Essel, Klaus Gramüller, Beate Reker, Philipp Sebastian und Stefanie Tauber wurde durch die schnellen Szenen und die analytischen Texte viel schauspielerisches Talent abverlangt. Thematik und Inszenierung verbaten es sich, eine besondere Sympathie zu den Darstellern aufzubauen. Sie sind dem Publikum nicht ans Herz gewachsen, sondern ihm am Ende des Stücks noch genauso fremd geblieben wie am Anfang. In dieser Konstellation gelang den fünf Gast-Schauspielern durch einen professionellen Auftritt ein beachtliches Schauspiel. Dem Publikum wurde mit harten, konfrontativen Dialogen überzeugend klar gemacht, dass Überschuldung nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel ist. Dennoch blieb am Ende ein schaler Geschmack. Autorin und Regisseurin setzten ein hochpolitisches gesellschaftliches Thema in Szene. Doch sie scheuten sich davor, Partei zu ergreifen. "Ich versuche, keine Antworten zugeben", gab Scharpff zu. Diese Herangehensweise zog sich durch das ganze Stück. Fast 90 Minuten lang wurde die Frage gestellt, was in überschuldeten Menschen vorgeht. Wie fühlen sie sich, wenn sie von ihrer Schulden-Last fast erdrückt, ihre Briefe nicht mehr öffnen, wenn sie ungedeckte Schecks ausstellen oder völlig hilflos und allein vor ihrem Kredit-Geber stehen? Auf hervorragende Weise gelang es Autorin, Regisseurin und Darstellern, innerlich zerrüttete und am Abgrund stehende Menschen in einer verkorksten Gesellschaft herauszuarbeiten. Doch die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen, die Menschen dazu treiben, Schulden zu machen, wurde beinahe vollständig ausgeblendet. Beschrieben wurden die Symptome, nicht aber die Ursachen. Dadurch wird die "Dunkelziffer" zu einem Stück, das bestenfalls zum Nachdenken einlädt. | ||
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