Text von Freitag, 11. November 2005
Kampf der Ausgrenzung: Jugendprotest auch in Deutschland? | ||
Marburg * (atn)
Frankreichs Jugend ist in den letzten Wochen ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt. Steht Europa angesichts ihrer radikalen Proteste nun vor einem Flächenbrand? Diese Frage wurde während eines gut besuchten "Teach-In" am Donnerstag (10. November) vom Zentrum für Konfliktforschung (ZfK) der Philipps-Universität Marburg erörtert. Das ZfK hatte eine Gruppe von Wissenschaftlern zusammengerufen, die sich unter der Moderation von Dr. Peter Imbusch an einer Ursachenanalyse versuchten und über einige "Baustellen der Problematik" sprachen. Der Koordinator am Zentrum für Konfliktforschung, Dr. Johannes Becker, wies auf die Auslöser der derzeitigen Krawalle in Frankreich hin. Der Politologe bezeichnete die gegenwärtige Situation nicht als neu. Sie sei lediglich in ihrer Schärfe und Ausbreitung neu. In 240 Städten in Frankreich brannten bisher Autos. Schon in den ersten 300 Tagen des Jahres 2005 sind 9.000 Polizeiautos Opfer von Brandanschlägen geworden. In Deutschland brenne laut Becker nicht mal eins pro Tag. Die Protestbewegung sieht Becker als spontan an. Zusammengehalten werde sie von der Forderung aller beteiligten Jugendlichen nach Respekt. Als tiefere Ursachen der Gewalttätigkeit nannte Becker die 22 Prozent Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich. Die segregierten jungen Menschen besitzen fast alle einen französischen Pass. Benachteiligt werden sie trotzdem. So ist es beispielsweise für einen arabisch-stämmigen Franzosen fünf bis sieben mal schwerer, eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz zu bekommen. In seinem letzten Punkt betonte Becker, dass die Bewegung noch nicht von politisch oder religiös motivierten Gruppen vereinnahmt worden sei. Die Regierung bemüht sich ihrerseits, mit Regressionen und Programmen, den Randalierern Einhalt zu gebieten. In 30 von 85 Departements hat sie den Notstand ausgerufen. Der Soziologe Lars Schmitt vom ZfK ging mehr auf die Auslöser von Gewalt ein. Er beschrieb sehr anschaulich, dass Ungerechtigkeit allein nicht automatisch zu Ausschreitungen führt. Die Ungerechtigkeit an sich müsse erst als Leid empfunden werden. Und dazu müsse noch kommen, dass der Leidende etwas Externes für seine Benachteiligung verantwortlich macht, gegen das er vorgehen kann. Nach Schmitt sprachen noch Juniorprofessor Dr. Thorsten Bonacker und Prof. Dr. Ulrich Wagner. Sie waren sich mit ihren Vorrednern relativ einig darin, dass Einwanderer in Frankreich zwar besser integriert sind als in Deutschland, doch dass diese Teilhabe an der Gesellschaft eher suggeriert wird. Der Ausbruch von Gewalt ist als "Kompensationsstrategie" der Jugendlichen zu verstehen, die die Kosten für ihre Taten als extrem gering einschätzen. Ein Übergreifen der Protestwelle auf Deutschland schätzte die Gruppe als eher unwahrscheinlich ein. Viele jugendliche Einwanderer in Deutschland haben keine Aufenthaltssicherheit. Sie können also bei entsprechendem Verhalten ausgewiesen werden. Die deutsche Einwanderungspolitik halte also gewissermaßen die jungen Migranten in Schach, was aber nicht bedeute, dass sie deswegen positiver sei als die der Franzosen. Bonacker wies jedoch darauf hin, dass man zwischen der Entstehung von Gewalt und der Fortsetzung von Gewalt unterscheiden müsse. So hält er es für möglich, dass Jugendliche anderer Nationalität die Waffen der Franzosen auch dann übernehmen, wenn sie nicht einer entsprechende Benachteiligung ausgesetzt sind, um gegen verhasste Autoritäten anzugehen. An die kurzen Statements der Wissenschaftler schloss sich eine rege Diskussions- und Fragerunde an. Deutlich wurde dabei, dass die französische Situation die Menschen aufrührt und viele sich Gedanken über Ursachen und Methoden ihrer Bekämpfung machen. | ||
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