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Text von Donnerstag, 31. März 2005

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 Russische Seele: Nicht östlich, nicht westlich 
 Marburg * (mid)
Für den halbwegs aufmerksamen Beobachter des internationalen Weltgeschehens dürfte es zunächst eine überraschende Neuigkeit gewesen sein: "Moskau gibt es nicht" behauptete der Titel einer Lesung am Mittwoch (30. März) in der Waggonhalle. Unter der Regie von Franziska Lüdtke lasen die Schauspieler Utz Lambert, Bastian Schneider, Inga Berlin und Christiane Rippel vom Theater Gegenstand die zu einer Collage verknüpften Texte. Einzelne dialogische Szenen lockerten den Textfluss der Lesung angenehm auf und sorgten für eine gelungene atmosphärische Verdichtung. Leider war die sprecherische Umsetzung der gelesenen Passagen nicht immer ganz flüssig.
Die von Lüdtke ausgewählten Texte lenkten den Blick schwerpunktmäßig nicht auf die Ereignisse der großen Politik, die das Bild Moskaus als russisches Machtzentrum im Westen prägen. Der Bezug auf konkrete politische Geschehnisse beschränkte sich auf die Geiselnahme in einem Moskauer Theater im Zusammenhang mit dem Tschetschenien-Konflikt. Im Gesamtkontext der Lesung wirkte das ein wenig bemüht. Die Mehrzahl der Texte aber erzählte von ganz alltäglichen Auseinandersetzungen der Moskauer mit den Auswirkungen der marktwirtschaftlichen Umwälzungen in den 90er Jahren. Die in der russischen Millionenmetropole wohnenden Menschen selbst standen im Mittelpunkt der Inszenierung: Kioskverkäufer und gelangweilte Neureiche, Schutzgelderpresser oder der jugendliche Autowäscher Andrej, der pro Tag mehr verdient als seine im Kindergarten arbeitende Mutter pro Monat. So unterschiedlich wie die Protagonisten sind auch deren Probleme: Während die einen über den Prestigeverlust der akademisch Gebildeten klagen und bei dekadenten Parties ausgiebig über den Zustand der "russischen Seele" diskutieren, kämpfen die andere ums nackte Überleben. Das "eine" Moskau gibt es also tatsächlich nicht.
Es ist eine kritische Sicht, die die Lesung insgesamt auf die - ständig im Umbruch befindliche - russische Hauptstadt vermittelte. Der versprochene Blick auch auf das "schöne" Moskau kam dabei leider - trotz aller berechtigten Kritik - etwas zu kurz. Vor allem die Dialogszenen gaben aber den Schauspielern die Gelegenheit, ihr Können unter Beweis zu stellen.
 
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