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Text von Freitag, 18. März 2005

> k u l t u r<
  
 Schuldig oder nicht: Lesung im Arbeitsgericht 
 Marburg * (hjf)
Welcher Ort wäre für die szenische Lesung eines Gerichtsprozesses besser geeignet als ein Gerichtssaal? Das dachte sich vermutlich auch das Hessische Landestheater. In den Räumen des Arbeitsgerichts Marburg führte es am Donnerstag (17. März) das Stück "Indizienbeweis" vom Winston Graham auf. Die - zugegeben provokante - Kernfrage des Werkes nach "Gesetz und Gerechtigkeit oder der Wahrheit" dürfte in diesen Räumlichkeiten tagtäglich Thema sein.
Aufgeführt wurde das Werk im Rahmen der Reihe "Gerichtsprozesse" des Hessischen Landestheaters. Gekommen waren rund 30 Leute.
Die Story schien zunächst denkbar einfach: Ein Arzt wird vor der Ärztekammer angeklagt, ein Verhältnis mit einer Patientin gehabt zu haben. Kläger ist der Mann - oder besser Witwer - der Frau. Sie hat sich nämlich anscheinend mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen.
Der Witwer stellt nun die Behauptung auf, dass ihr Arzt und Liebhaber sie zum Selbstmord getrieben habe. Beweise gibt es keine. Dafür aber eine ganze Menge Indizien, also Hinweise auf seine Schuld.
Die Szenen im Gericht wechselten sich mit Szenen außerhalb des Gerichtssaals vor und während des Prozesses ab. Die Besucher erlebten die Gerichtsverhandlung leiblich mit. So mussten sie sich von ihren Plätzen erheben, als der Richter die Verhandlung eröffnete. Das vermittelte dem Zuschauer das Gefühl, in einer dieser täglichen Gerichts-Soaps der privaten Fernsehprogramme zu sitzen.
Die Schauspieler hielten - anders als bei einem Theaterstück - die Texte in Händen und lasen in verteilten Rollen. Es war eben eine Lesung. Durch die Verteilung der Rollen wirkte das Ganze aber viel lebendiger und spannender als bei einer gewöhnlichen Lesung.
Damit ist das Hessische Landestheater ja auch am Zahn der Zeit. Man schaue nur über den großen Teich, wo die Gerichtsszenen im Prozess gegen den POP-Star Michael Jackson in einer täglichen Dokumentation nachgespielt werden. Beim Jackson-Prozess sind Kameras nicht gestattet.
Eine Besonderheit der Inszenierung von Stefan Gille war die Rolle des Lordrichters, also des Vorsitzenden dieses Gerichtes. Sie wurde von Hans Gottlob Rühle, dem Direktor des Arbeitsgerichtes Marburg - sozusagen lebensecht - gespielt. Rühle ist Jurist und Hobby-Schauspieler.
"Früher wollte ich zuerst Priester werden, dann Diplomat, danach Regisseur und dann Schauspieler. Und jetzt habe ich alles zusammen", erzählte er in der Pause. Da mutierte er vom Lordrichter zum Kellner und schenkte den Besuchern Getränke aus.
"Ein Jurist braucht auch viel schauspielerisches Talent", erklärt Rühle. Als Richter dürfe man oft keine Mine verziehen, obwohl einem danach wäre. Als Rechtsanwalt müsse man in gewissem Sinne auch schauspielern, um die Richter von der eigenen Ansicht zu überzeugen.
Das Schauspielern mit dem Hessischen Landestheater mache ihm viel Spaß. Schwierig seien nur Rollen, die wenig Text haben. Da verpasse er manchmal seinen Einsatz.
Durch die räumliche Nähe zu den Schauspielern entwickelte sich im Laufe der Vorstellung eine Art naive Realität. Also die Einschwingung in die Rolle als Gerichtsteilnehmer. Dabei geriet leicht in Vergessenheit, dass es sich um keinen authentischen Fall handelte. Die kleinen Versprecher beim Ablesen der Texte verstärkten das Gefühl der Authentizität sogar. Der wahrhaft unerwartete Ausgang des Stückes holte den Zuschauer dann jedoch ins Jetzt und Hier zurück.
Jedes Stück in der Reihe der Lesungen wird nur einmal aufgeführt. Die nächste und letzte Aufführung für dieses Jahr findet am 25. Mai statt. Ein Besuch ist sehr zu empfehlen.
 
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