Text von Mittwoch, 7. July 2004
DBSV und DVBS: Unpraktikabel bis diskriminierend | ||
Marburg * (fjh/pm)
Als "unpraktikabel bis diskriminierend" kritisieren der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) und der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) die Pläne der Bundesregierung für ein sogenanntes "Wirtschaftlichkeitsstärkungsgesetz für die Sozialversicherung" (WSG-SV). Ihre gemeinsame Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung haben die beiden Blindenverbände am Dienstag (6. Juli) vorgelegt. Nach dem Willen der Bundesregierung sollen Schwerbehinderte einen weiteren Beitrag zur Sanierung der Staatsfinanzen leisten: Die Berechtigung zur unentgeltlichen Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) wird im Entwurf des (WSG-SV im Wesentlichen auf den Wohn- und den Beschäftigungslandkreis der Betroffenen beschränkt. Als "offensichtlich nicht zu Ende gedacht" bezeichnete DBSV-Präsident Jürgen Lubnau die Pläne am Mittwoch (7. Juli) in Berlin. Für den DVBS-Vorsitzenden Uwe Boysen ist das "ein Vorhaben ohne finanzielle, dafür aber mit für blinde und sehbehinderte Menschen diskriminierender Wirkung." Die Verbände haben dem Bundessozialministerium (BMGS) am Dienstag (6. Juli) eine gemeinsame Stellungnahme vorgelegt, in der sie die Rücknahme der Beschränkungspläne fordern. Ihr Votum begründen DBSV und DVBS einerseits damit, dass die geplante Regelung zu weitgehend und in vielfacher Weise unpraktikabel sei. "Die rund 655.000 Blinden und Sehbehinderten in der Bundesrepublik müssten Fahrkarten von Automaten kaufen, die sie nicht bedienen können, und dies an Orten, wo sie sich nicht auskennen", erläuterte Lubnau. Damit schaffe der Gesetzgeber neue Barrieren, statt welche zu beseitigen. Damit diskriminiere er jene, die schlicht nicht in der Lage seien, die Ticket-Automaten zu nutzen. Für den DVBS-Chef belastet die Regelung beispielsweise einseitig blinde Studierende und Berufstätige, die häufig Dienstreisen antreten. Gleiches gelte für Behinderte, die medizinische Behandlungen in weiter entfernten Orten wahrnehmen müssen. "Fortwährende Änderungen am Gesetzestext sind absehbar, wenn man sich für diese viel zu komplizierte und unpraktikable Lösung entscheidet", prophezeite der 56-jährige Jurist. Zusätzlich zu ihrer inhaltlichen Kritik ziehen die Verbandsvertreter die finanzielle Wirkung der Maßnahme in Zweifel. Auf die Höhe der Ausgleichszahlungen von Bund und Ländern für die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter habe die geplante Einschränkung bestenfalls marginale Auswirkungen. "Sie soll den ÖPNV-Betreibern offenbar zu Mehreinnahmen verhelfen, wie sie die Tickets allerdings an den blinden Kunden bringen, bleibt fraglich", kommentierte Lubnau. "So wird aus einem blinden Kunden ein blin der Passagier", fügte Boysen hinzu. Der 61jährige DBSV-Präsident forderte die Bundesregierung auf, die Sparvorgaben des Koch-Steinbrück-Papiers nicht - wie geplant - weit überzuerfüllen: "Wir dürfen daran erinnern, dass der Gesetzgeber durch die Streichung des sogenannten Häufigkeitsfaktors im April 2004 bereits eine erste Sparmaßnahme umgesetzt hat, die er jetzt in seinen weiteren Überlegungen nicht mehr berücksichtigt." Sollte dennoch ein Beitrag der Betroffenen unvermeidbar sein, so böten sich nach Auffassung von DBSV und DVBS andere Möglichkeiten: "Entweder man erhöht die Wertmarkengebühr oder man bietet eine optional zu erwerbende, zusätzliche Mobilitätsmarke an, die die kostenfreie Beförderung im Nahverkehr abseitig des Wohnortes ermöglicht", fasste Lubnau die Alternativvorschläge der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe zusammen. "Doch Bund und Länder sollten sich zunächst genau überlegen, ob sie den Sparrasenmäher wirklich schon wieder über dieselbe Betroffenengruppe rollen lassen wollen", mahnte Boysen. "Schließlich", so Lubnau abschließend, "hat hier sogar der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Karl Hermann Haack inzwischen derart große Skrupel, dass er sich öffentlich gegen das Vorhaben ausspricht, obgleich er einer die Bundesregierung tragenden Fraktion des Deutschen Bundestages angehört." | ||
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