Text von Freitag, 22. November 2002
| Marburg * (kar)
"Die gegenwärtige Praxis macht den Rechtsanspruch zur Makulatur", beklagt Andreas Bethke. Der Geschäftsführer des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) kritisiert die Umsetzung des Rechtsanspruchs behinderter Menschen auf eine Assistenz am Arbeitsplatz. Nicht zuletzt wegen der Ergebnisse einer Tagung des DVBS im Mai 1998 wurde der Rechtsanspruch im Oktober 2000 Wirklichkeit. Auf der Fachtagung "Arbeitsassistenz - Fortschritte, Ausweichschritte, Rückschritte" zogen Experten und Betroffene am Freitag (22. November) im Sorat-Hotel nach 25 Monaten ein erstes Resume. "Dass die Umsetzung des Rechtsanspruchs so viele Probleme bereiten würde, das hatten wir doch nicht erwartet", gab der DVBS-Vorsitzende Dr. Otto Hauck zu. Das Chaos in der Bewilligungspraxis wurde ebenso kritisiert wie die Planungsunsicherheit der Behinderten und ihrer Assistenzkräfte angesichts kurzer Bewilligungszeiträume. In der Vielzahl von täglichen Schwierigkeiten mache Bethke zwei Hauptprobleme aus: Für die Leistungen von Assistenzkräften müssen bisher Einzelstundennachweise erbracht werden. Dieser bürokratische Akt ist nicht nur lästig, er kann auch teure Folgen haben. Wenn aufgrund von Krankheit oder Urlaub weniger Stunden zusammenkommen, als im Arbeitsvertrag vereinbart, muss der Arbeitgeber die Differenz aus eigener Tasche begleichen. Ein zweites Problem besteht darin, dass die Organisation von Arbeitsassistenz - von der Einstellung bis zur Lohnkostenabrechnung - häufig so aufwendig ist, dass sie mehr Arbeit schafft als Erleichterung bringt. Zudem werden meist nur die Nettolöhne von den Integrationsämtern bezahlt. Die Lohnnebenkosten müssen die Behinderten selbst dazulegen. "Diese Vorgehensweise ist für uns völlig inakzeptabel", beschwert sich Bethke. Rosita Schlembach als Vertreterin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) signalisierte hier Gesprächsbereitschaft. "In einem sozialen Rechtsstaat sollte die Teilhabe aller Menschen am Arbeitsleben gewährleistet sein", erläuterte Rechtsanwalt Dr. Herbert Demmel. Blinde und Sehbehinderte seien in ihrer Mobilität und ihren Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung eingeschränkt. Technische Hilfestellungen wie EDV-Anlagen oder Sprachsysteme könnten diesen Nachteil nur zu einem Teil ausgleichen. Die Unterstützung durch eine sehende Assistenz sei in vielen Bereichen des Arbeitslebens - angefangen beim Lesen der Post - unerlässlich. In einer Resolution forderten die 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Gesetzgeber auf, den Rechtsanspruch in Form einer Rechtsverordnung zu präzisieren. Bei der Organisation der Arbeitsassistenz anfallende Kosten müssten von den Integrationsämtern übernommen werden. Der Behinderte müsse grundsätzlich die Wahlfreiheit haben, ob er seine Assistenz selbst organisieren oder eine vom Arbeitgeber gestellte Kraft in Anspruch nehmen wolle. "Den ersten Meilenstein haben wir geschafft, als es uns gelungen ist, den Rechtsanspruch gesetzlich zu verankern", schloss Hauck die Tagung. " Den zweiten Meilenstein nehmen wir nun mit der Forderung nach einer Rechtsverordnung in Angriff." |