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Text von Samstag, 27. April 2002


Marburg zum Anfassen: Stadtführung für Blinde

Marburg * (FJH)
Das Plätschern des Marktbrunnens ist gut zu hören. Nachdem ich um die Ecke auf den Marktplatz eingebogen bin, muss ich nur noch auf das Geräusch zugehen. Mein Blindenstock schlägt rhythmisch auf die Pflastersteine auf. Eine Frauenstimme spricht mich an: "Guten Abend! Ich bin Kristina Lieschke".
Mit der Stadtführerin habe ich mich für Freitag (26. April) verabredet. Probeweise will sie mich eine Stunde lang durch Marburg führen. Ab Mai wird die Marburg Tourismus Marketing GmbH (MTM) spezielle Stadtführungen für Blinde anbieten. Kristina Lieschke ist eine der sechs Stadtführerinnen, die sich mit Unterstützung der Deutschen Blindenstudienanstalt auf dieses Angebot vorbereitet haben.
An der Häuserwand bei der Einmündung der Nicolaistraße ertaste ich historische Parolen. "Wählt Thälmann!" Leider hat jemand die Steine geschrubbt, so das die Schrift nur noch schlecht zu lesen ist. Vor wenigen Monaten war sie noch deutlich ertastbar.
Die Stadtführerin nimmt mich am Arm. Sie möchte wissen, wie sie mich führen soll. Ich ergreife ihren Ellenbogen.
Durch die Barfüßerstraße gehen wir zur Wendelgasse. Vor dem Haus Wendelgasse 2 halten wir an. Hier hat Michail Lomonossow von 1736 bis 1741 gewohnt. Als Student in Marburg muss er ordentlich einen draufgemacht haben, denn sein Professor Christian Wolff beschwerte sich über kräftigen Bierkonsum schon am frühen Morgen.
Die Wendeltreppe am oberen Ende der Gasse bietet Gelegenheit zu haptischen und akustischen Erfahrungen: Ich taste nach den Steinen und teste den Hall beim Unterqueren des Torbogens, der zum Lutherischen Kirchplatz führt.
Kristina Lieschke beschreibt die Aussicht vom ehemaligen Friedhof aus über die Stadt hinweg bis nach Cappel. Dann führt sie mich in die Lutherische Pfarrkirche. Der Organist übt gerade. Wir können die einmalige Akustik in der einstigen Marienkirche erleben. Ich erfahre Wissenswertes über die drei Bauabschnitte der gothischen Kirche und ihren schiefen Turm. Über die Gründe für die Schräglage des Turmhelms streiten sich die Gelehrten.
Draußen zeigt mir meine Führerin bemooste Steine und eingemeißelte Inschriften. Sie führt meine Hände überall dorthin, wo es etwas zu ertasten gibt.
Eine Treppe bringt uns zur Ritterstraße. Vorbei am Forsthof und dem Bettina-Turm in seinem Garten gehen wir zum Kalbstor. Es ist das einzige, noch zugängliche Stadttor Marburgs. "Gibt es noch andere, unzugängliche?", will ich wissen. "Ja, auf dem Gelände der Physik am Renthof", antwortet Kristina. Das wusste ich als alter Marburger auch noch nicht.
Auf der einen Seite des Kalbstors ist das Konrad-Biesalsky-Haus (KBH). Es wurde 1969 als erstes rollstuhlgerechtes Studentenwohnheim Deutschlands eröffnet. Durchquert man das Tor stadteinwärts, so kann man am Hang die Befestigungsanker der Stadtmauer ertasten. Spinnweben bekomme ich dabei gleich mitgeliefert.
Die Kugelgasse gehen wir nun hinunter, vorbei an der Kugelkirche. Sie ist nach den "Kugelherren" benannt, einem der vier Mönchsorden Marburgs.
Über den Lutherischen Kirchplatz gehen wir zwischen dem "Kerner" - einem gothischen Gebeinhaus - und dem "Hochzeitshaus" hindurch, das nie ein Standesamt war. In eine kleine Gasse biegen wir ab, die ich trotz 25 Jahren Marburg noch nie durchschritten habe. Kristina ieschke beschreibt die rückwärtige Dachpartie des "Steinernen Hauses" und den Toilettenerker, den sie von hier aus sehen kann.
Beschreiben, berühren und Hinhören - ansonsten unterscheidet sich diese Stadtführung kaum von anderen. Aber Blinde sind ja auch nicht so viel anders. Immerhin macht Marburg mit diesem Angebot den Versuch, Menschen mit Sehbeeinträchtigungen die Stadt auf angemessene Weise zu zeigen.
"Ich war ein bisschen aufgeregt", gesteht Kristina Lieschke mir zum Schluss. "Wichtig ist doch vor allem, dass Sie sich auf die Bedürfnisse ihrer Kundschaft einstellen", meine ich. "Das tue ich doch bei allen Führungen", meint sie erleichtert.



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