Text von Donnerstag, 31. Januar 2002
Marburg * (sfb)
Ein Verbrecher tut etwas Verbotenes und ein Freudscher Versprecher ebenso, wenn sich lange Unterdrücktes seinen Weg bahnt. Und was zog Besucher in hellen Scharen am Mittwochabend (30. Januar) in den Fürstensaal des Landgrafenschlosses? Dort referierte auf Einladung des "Arbeitskreises Marburger PsychoanalytikerInnen" Prof. Horst Eberhard Richter aus Gießen über " Eltern, Kind und Neurose - 40 Jahre danach." Worum ging es in diesem Buch, das nach 40 Jahren immer noch Gültigkeit besitzt? Es entstand auf der Grundlage von langjährigen Beobachtungen, die der mehrfache Buchautor Richter in seiner psychoanalytischen Praxis in den frühen 60ern machte. Er entdeckte, dass ratsuchende Mütter an den psychischen Störungen ihrer Sprößlinge maßgeblich beteiligt sind. Das Stottern des kleinen "Reinchen" oder die nervösen Ticks von Hans sind nur Symptome, deren Ursachen in den unbewußten Erwartungen der Eltern liegen, so Richter. Wenn eine Mutter sagt "Das Kind kann sich schlecht freuen", so sitzt sie einem Freudschen Versprecher auf. Ihn muss man nur erkennen und interpretieren. Und schon ist klar: Eigentlich will die Mutter gestehen, dass der Sohn ihr keine Freude macht. Anfangs ging das Buch nur schleppend über die Ladentheke. Sein Freund Alexander Mitscherlich riet Richter sogar von einer Veröffentlichung ab. Das Risiko sei für den Verleger nicht zumutbar, hieß seine Begründung. Doch das 1962 erschienene Werk erfreute sich schon nach zwei Jahren großer Beliebtheit. Ein besonders fruchtbarer Boden, auf den es fiel, war die Mitte der 60er Jahre aufkommende Studentenbewegung. Stellvertretend für die elterliche Generation, die ihren Protest tunlichst verschwieg, machte sich bei ihr erstmals Empörung über die Nazi-Verbrechen Luft. Liberalisierungsversuche auf der ganzen Linie waren die Folge. Studentische Mütter gingen unter dem Einfluß von "Eltern, Kind und Neurose" dazu über, sich selbstktritisch zu hinterfragen , um ihren Nachwuchs besser zu verstehen. "Bei sich selbst anfangen wollen" , um eine solidarische Gesellschaft zu schaffen, führte zu den Kinderläden. Einige davon in Marburg hat Richter mit fachmännischem Rat begleitet. Sie waren Orte, wo Kinder lernen sollten, ihre Konflikte ohne Gewalt und Ausgrenzung auszutragen. Den Vorwurf, dass die Kinder ihre Triebe ungehemmt entfalten konnten, wollte der politisch engagierte Richter indes nicht bestätigen. In den Nachfolgejahren hat sich der Zeitgeist verändert, wie eine von Richter angelegte Studie beweist. An die Stelle des Bedürfnisses nach Nähe trat in zunehmenden Maße Vereinzelung und Individualismus. An der Schwelle zum neuen Jahrhundert seien die Menschen zwar familienfreundlicher; man suche mehr Nähe und Anschluß, aber es gebe auch hier Schattenseiten. Kinder verkommen durch den Eingriff ins Genmaterial zu einem qualitätsgesicherten Produkt. Während Eltern ihr Kind früher durch unbewußte Erwartungen krank machten, wäre es nicht auszudenken, was sie jetzt täten, wenn ihr Kind sich nicht gemäß der genetischen Programmierung entwickeln würde. Richter wies darauf hin, dass dieses Bestreben, den perfekten Menschen zu schaffen, eigentlich krank sei. Die Alarmglocken müssten läuten. |