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Text von Sonntag, 7. April 2002


AOK: Auch ohne Kasse

Marburg * (sfb)
Wer ist die Person auf der anderen Straßenseite: ist es Katharina oder Johann? Fährt der Bus, 10 Meter vor mir, nach Marbach oder Wehrda? Fragen dieser Art sind typisch für Menschen, die kurzsichtig sind. Je nach Sehkraft kann ihre Welt bereits nach 5 Metern in ein konturenloses Etwas verschwimmen. Da helfen nur noch der Augenarzt und eine Brille, dachte ich mir. Der Augenarzt attestiert mir aber nur eine leichte Kurzsichtigkeit, die keine Sehhilfe erfordere. Mein Einwand, dass ich mit der Brille eines Bekannten viel besser sehen könne, wehrte der Arzt entschieden ab. Er vertraue ausschließlich den Ergebnissen der Sehtests. Also bleibt mir nicht anderes übrig als weiterhin zu raten, statt zu sehen, was sich in unmittelbarer Umgebung abspielt. Da das aber auf Dauer kein Zustand ist, ging ich kurzerhand zum Optiker, der mir endlich eine Brille verpasste. Der Eigenbetrag der Kosten beläuft sich auf 90 Prozent, den kümmerlichen Rest von 14 Euro übernimmt die Krankenkasse. Dabei erfuhr ich, dass eine vom Augenarzt verschriebene Brille nichts an dieser Tatsache geändert hätte. Wollte der Augenarzt mit seiner Fehldiagnose tatsächlich die Krankenkasse entlasten oder vielleicht sein eigenes Budget? Der Patient jedenfalls wird bei dieser Art der Verschreibungspraxis abgeschrieben. Ein anderer Fall: Ein Facharzt hält 12 Massagesitzungen für notwendig, er verordnet 4 und verweist die Patientin an ihren Hausarzt, der weitere 4 Massagen verschreiben soll. Die letzten 4 verschreibt er dann wieder selbst, aber erst nachdem der Quartalswechsel vorüber ist. Die gute Frau kommt zwar auf die Zahl 12, aber die langen Pausen zwischen den Behandlungssequenzen machen eine tiefgreifende Genesung fragwürdig. Manche Leute kommen erst gar nicht in den Genuß von Massagen, vor allem, wenn sie AOK-Patienten sind. Nicht wenige, mit unerträglichen Schmerzen im Nacken- und Kopfbereich erhalten den ärztlichen Rat, schwimmen zu gehen. Wenn auch das oder die vorgeschlagene Morgengymnastik nicht helfen, haben die Schmerzgepeinigten halt Pech gehabt. Aus Kostengründen kommen Massagen oder vorbeugende Maßnahmen nicht in die Tüte. Wofür, fragen sich die Kassenpatienten zu recht, zahlen wir einen monatlichen Versicherungsbeitrag von durchschnittlich 150 Euro an die Kassen, die auf Medikamente und Sonderleistungen einen zusätzlichen Eigenbeitrag erheben. Diese Beispiele lassen den Eindruck entstehen, dass sich die Krankenkassen auf dem Rücken ihrer Patienten gesund stoßen wollen. Wenn man schon sparen will, sollten die Kassen doch weniger die Kranken schröpfen, sondern mal den Ärzten stärker auf die Finger schauen - vor allen dann, wenn sie Abrechnungen für ihre hochgeschätzten Privatpatienten schreiben. Etliche Leistungen, die mit großzügigen Summen berechnet werden, sind nie erbracht worden. Aber in diesem Fall zahlen die Kassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Der jüngste Ärzteskandal, bei dem dieselbe Operation sowohl von Patienten als auch von ihren Kassen gezahlt wurde, ist nur die Spitze des Eisbergs. Ärzte sind weder dem Eid des Hippokrates noch der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet, sondern dem schnöden Mammon. Neben ihnen und den Kassen langt aber vor allem die Pharmaindustrie den Patienten kräftig in die Tasche. Regierungen, die das hohe Preisniveau der Medikamente legalisieren, machen es möglich. Soll der Kassenpatient, der nichts mehr für sein Geld erwarten darf, etwa dem Beispiel der Pharmavertreter folgen, und die Ärzte bestechen? Es ist doch eine Ironie des Schicksals. Das von Reichskanzler Otto von Bismarck eingeführte Sozialversicherungssystem - ein genialer Schachzug gegen die erstarkende Sozialdemokratie - wird nun 120 Jahre später ausgerechnet von einer sozialdemokratischen Regierung demontiert. sfb


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