Text von Samstag, 9. November 2002
Marburg * (spi)
Vier Menschen sitzen um einen Tisch. Zwei Frauen, zwei Männer. Pruniella Fuchs und Gert Meyer, beide in der Nachkriegszeit aufgewachsen, Bianka Gotsch und Andreas Benkwitz, Angehörige der sogenannten Enkelgeneration. Gemeinsam versuchten sie am Samstag, (9. November), dem 64. Jahrestag der Reichspogromnacht, die psychologischen Hintergründe der Judenverfolgung in Nazi-Deutschland aufzuspüren. Zur Lesung in der Waggonhalle war ein überraschend junges Publikum erschienen, dessen Verbindung zur Nazi-Zeit nur selten über die Lektüre historischer Bücher hinausgeht. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 kennzeichnet einen Höhepunkt der Judenverfolgung in Hitler-Deutschland. Überall im Land wurden Synagogen in Brand gesetzt. Angehörige der verschiedenen NS-Organisationen demolierten und plünderten unzählige jüdische Geschäfte und Wohnungen . Am darauffolgenden Morgen wurden rund 30.000 männliche Juden in Konzentrationslager verschleppt. Die Reichspogromnacht, wegen der vielen zu Bruch gegangenen Fensterscheiben auch "Reichskristallnacht" genannt, gilt als Wendepunkt der damaligen Judenverfolgung. Von da an wurden Juden auch offen gejagt. Juden, die bis zu diesem Tag noch nicht aus Deutschland geflohen waren, wurden enteignet und in Konzentrationslager deportiert. Gert Meyer, Marburger Historiker und Politologe, beleuchtete den 9. November 1938 auf sehr rationale Weise. Mit mathematischer Präzision beschrieb er, was während der Pogromnacht in Marburg geschah. So erzählte er, wie bereits am 8. November die Fenster der alten Synagoge eingeworfen wurden und sich am darauffolgenden Abend Mitglieder verschiedener Verbindungen an der Hetzjagd von SA und SS beteiligten. Drei, in den Jahren 1941 und 1942 folgende, Deportationen brachten die noch verbliebenen 300 Marburger Juden in das KZ Theresienstadt. Die Schauspielerin Pruniella Fuchs vom Theater Gegenstand lass persönliche Briefe ihres Vaters, die die Psychologie der deutschen Bevölkerung widerspiegeln sollten. Zum Vortrag kamen aber auch Erfahrungsberichte aus Auschwitz und Bergen-Belsen. Hier beeindruckte der Text eines Mädchens, das zusammen mit Anne Frank inhaftiert war und deren Sterben im KZ miterlebte. Zu einem Großteil waren jedoch Texte gewählt worden, deren Verbindung zum Holocaust nur schwer herzustellen war. Einige Male unterbrachen Einspielungen jüdischer Musik die Lesung. Hier hatte man sich auf eine Dramatik verlegt, aus der insbesondere die beiden jungen Leser nicht wieder herausfanden. Die Einbindung jüdischer Texte, Alltagsbilder und Volkslieder hätte die Opfer der Nazi-Verbrechen jedoch sehr viel greifbarer gemacht. So aber blieb die Lesung, trotz einer konzentrierten Zuhörerschaft, seltsam gefühlsarm. Wie ist es heute noch möglich, den nachfolgenden Generationen ihre Verbindung mit einem der dunkelsten Kapitel menschlicher Geschichte begreifbar zu machen? Das geht sicher nicht, ohne die in Deutschland wieder entstehende jüdische Kultur einzubeziehen. Dies ließ die Lesung jedoch vermissen. |