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Text von Donnerstag, 14. November 2002


Holocaust: Geschichte eines Lebens

Marburg * (spi)
Als Tochter eines Rasenmäher-Fabrikanten wurde sie 1900 in eine moderne Kölner Familie geboren, die der Tochter ein Medizinstudium ermöglichte. So war Lilli Schlüchterer ein erfolgreiches Leben in Aussicht gestellt. Ihr einziger Makel: Sie war Jüdin.
1925 heiratete sie den protestantischen Arzt Ernst Jahn und bekam mit ihm fünf Kinder. Sie war eine Frau, die sich
ganz ihren Gefühlen und ihrer Familie hingab. Diese Erkenntnis vermitteln die Briefe, die von ihrem Enkel Martin Doerry unter dem Titel "Mein verwundetes Herz - Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944" veröffentlicht wurden. Doerry befindet sich mit diesem Buch zur Zeit auf einer Lesereise. Am Mittwoch (13. November) las er zusammen mit den Schauspielerinnen Uta Eisold und Nadine Pasta vom Hessischen Landesthheater Auszüge des Buches im ausverkauften Theater am Schwanhof.
Die Briefe beschreiben die Korrespondenz zwischen Lilli Jahn, ihren Kindern und ihren Freunden. Sie sind größtenteils während ihrer Gefangenschaft im "Arbeitserziehungslager Breitenau" bei Kassel entstanden, bevor sie im Juni 1944 im
Konzentrationslager Auschwitz ums Leben kam.
Lilli Jahn ist die Mutter des früheren Bundesjustizministers und Marburger Ehrenbürger Gerhard Jahn. Er hatte die Briefe seiner Mutter bis zu seinem Tod unter Verschluss gehalten. Erst nach seinem Tod 1998 wurden die Briefe in der Familie erneut diskutiert. Der Spiegel-Redakteur Martin Doerry, Sohn der ältesten Tochter Ilse Jahn, hatte zunächst nur eine Dokumentation für die Familie im Sinn. Aus diesem Projekt ist dann aber ein Buch entstanden, das schnell mit den Tagebüchern der Anne Frank verglichen wurde und sich zu einem Bestseller entwickelt hat.
Die Briefe reichen zurück in die Zeit, als sich Lilli und Ernst Jahn während des Studiums kennenlernten. Ernst scheint an Lilli zunächst nicht interessiert. Lilli wirbt aber in erstaunlich offenherzigen Briefen um ihn. Schließlich hält Ernst im Dezember 1925 um Lillis Hand an.
Nach der Hochzeit ziehen beide nach Immenhausen bei Kassel, wo sie zusammen eine Arztpraxis betreiben. Als erstes Kind wird 1927 Gerhard geboren, die Tochter Ilse folgt, sowie drei weitere Töchter.
In Nazi-Deutschland als Ehemann einer Jüdin boykottiert, lehnt Ernst es ab, nach England zu emigrieren. Noch dazu stürzt er sich 1942 in eine Affäre mit einer Arzthelferin und lässt sich von Lilli scheiden, um Rita Schmidt zu heiraten, mit der er eine Tochter hat.
Lilli zieht mit den Kindern nach Kassel. Nach der Scheidung der Verfolgung der Gestapo ausgeliefert, wird Lilli am 1. September 1943 im "Arbeitserziehungslager Breitenau" inhaftiert. Von hier aus entwickelt sich ein intensiver Briefwechsel mit ihren Kindern. Fast täglich erhält sie Briefe ihrer Töchter. Sie selbst darf offiziell nur einmal im Monat einen Brief nach hause schreiben, schafft es jedoch immer wieder, auf Backpapier oder Medikamentenrezepte Geschriebenes aus dem Lager schmuggeln zu lassen.
Die Briefe zeugen von äußerst intimen Mutter-Kind-Beziehungen. Einerseits versucht Lilli, die Kinder zu ermutigen, um ihrer Mutterrolle gerecht zu werden, erzählt jedoch auch immer wieder von den Lebensbedingungen im Lager, was die Unerträglichkeit ihrer Situation deutlich werden lässt. Sie fragt nach alltäglichen Erlebnissen der Kinder, versucht weiterhin an deren Leben teil zu haben und schmiedet zuletzt Pläne eines heimlichen Treffens.
Im November 1943 darf Ilse die Mutter für zehn Minuten besuchen. Alles, woran sie sich 60 Jahre später noch erinnert, ist die innige Umarmung mit ihrer Mutter. Worte waren unerheblich geworden.
Lilli Jahn wurde im März 1944 nach Auschwitz deportiert. In einem Brief aus Auschwitz schrieb sie: "In den letzten Tagen habe ich Familien beneidet, die zusammen weggebracht wurden."
Sie verwirft diesen Gedanken aber sofort wieder und erklärt, dass sie ihre Kinder nicht in dieser Situation sehen will.
Lilli Jahn war eine Frau voller Widersprüchlichkeiten, soviel wurde an diesem Abend deutlich. Sie war eine stark von Gefühlen geleitete Person, deren positive Einstellung durch die Nazis nicht zerstört werden konnte.
Besonders tragisch erscheint ihre Liebesgeschichte zu Ernst, der sie hätte retten können. Die Briefe erzählen von der Zerstörung eines Lebens.
Diese Geschichte steht beispielhaft für viele in Nazi-Deutschland ums Leben gekommene Menschen. Genau das erklärt den Erfolg des Buches.
Wegen des großen Interesses wird die Lesung am 5. Dezember wiederholt.


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