Text von Samstag, 6. July 2002
Marburg * (FJH)
"Bescheidenheit ist eine Zier", sagt ein altes Sprichwort. Schon seit einigen Jahren fügt fast jeder hinzu: "Doch weiter kommt man ohne ihr!" In Marburg ist dieser moderne Nachsatz mit dem Lob der Unbescheidenheit noch nicht überall angekommen. Wie sonst wäre es zu erklären, dass die Stadt nicht mit dem Pfund wuchert, das hier reichlich vorhanden ist: Geschichte und Geschichten. Stünde die Elisabethkirche in Köln, gäbe es überall in der Stadt Postkarten mit dem Bild der Heiligen. Die frühgothische Kirche wäre vom Morgen bis zum Abend das Ziel von Touristenbussen und Einzelreisenden. Hätte das Religionsgespräch im Jahr 1529 zwischen Martin Luther und Ulrich Zwingli nicht auf dem Marburger Schloss stattgefunden sondern in Heidelberg, der Schlossplatz wäre übersät mit Souvenirbuden, überall stünden Wegweiser zur historischen Wirkungsstätte der beiden berühmten Reformatoren. hätte Christian Wolff an der Frankfurter Universität gelehrt, dann trüge sie heute vielleicht seinen Namen. Ein Denkmal des Philosophen erinnerte die Menschenn Tag für Tag an den Geist der Aufklärung. Hätte Emil von Behring seine Forschungen in Leipzig betrieben, wäre das Behring-Laboratorium nicht vergammelt. Sein Abriss wäre schier undenkbar. Stattdessen befände sich darin ein Medizin- oder Hygiene-Museum. Hätte Erich Auerbach nicht aus Marburg nach Istanbul auswandern müssen sondern aus Berlin, dann hätte er nach Kriegsende seinen "arisierten" Lehrstuhl sicherlich ohne Probleme zurübkbekommen. Wären Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer nicht in Marburg ihren philosophischen Studien nachgegangen sondern irgendwo anders, dann trüge ganz bestimmt eine wichtige Straße mitten im Stadtzentrum ihren Namen. Marburg scheint Größe nicht zu schätzen und angemessen zu würdigen. Bedeutende Leistungen berühmter Persönlichkeiten bleiben für die Stadt fast bedeutungslos. Wegen dieser Gleichgültigkeit im Umgang mit der Geschichte und ihren Geschichten kann auch die Stadt ihre Bedeutung kaum nach außen geltend machen. Dabei hat sie nicht nur bedeutende Persönlichkeiten und Stein gewordene Geschichte zu bieten sondern auch einen fast intakten historischen Stadtkern. Aber auch das haben Marburgs Stadtväter erst sehr spät begriffen. Bürgerinnen und Bürger käme es zweifellos nicht allzusehr zupass, wenn überall am Wegesrand Souvenirläden stünden und fotografierende Touristenhorden durch die Oberstadt strömten. Aber ein bisschen mehr Geschichtsbewusstsein und Respekt vor den großen Leistungen der Altvorderen wäre schon ein Gewinn für Marburg. |