Text von Dienstag, 23. April 2002
Marburg * (sfb)
Der "Welttag des Buches" ist auch an Marburg nicht spurlos vorbeigegangen. Am Dienstagabend (23. April) schlug Durs Grünbein das erste Kapitel der 3. Marburger Buchwoche mit einer Lesung auf. Der Rathaussaal war bis auf den letzten Stehplatz gefüllt, so dass Bürgermeister Egon Vaupel einen Anbau in Erwägung zog. Grünbein, einer der erlesensten Lyriker deutscher Zunge ist auch in hiesigen Breiten kein Unbekannter. Bereits 1992 wurde er mit dem Marburger Literaturpreis ausgezeichnet. Andere hochdotierte Ehrungen, darunter der renommierte Büchner-Preis, gehen ebenfalls auf das Konto des gebürtigen Dresdners. Der Beginn der Lesung stand indes ganz im Zeichen des "Endes". Aus seinem Arbeitstagebuch zitierte Grünbein eine Passage vom 11. November. Der Selbstmord, so war zu hören, sei mittlerweile unter den Literaten aus der Mode gekommen. Dagegen üben die romantischen Dichter, getrieben von schaurigen Sehnsüchten, einen unwiderstehlichen Reiz auf ihn aus. Immer noch auf morbiden Pfaden entführte der Poet seine Hörerschaft in das Reich kindlicher Phantasien über einen rostigen Nagel im Fleisch, der in schleichendem Tempo den sicheren Tod bringt. Seine unverkennbare Todessehnsucht spiegelt sich nicht minder in den Gedichtzyklen "In der Provinz" wider. Darin schildert Grünbein unterschiedliche Landschaften, in denen ein totes Tier als immer gleiches Motiv vorkommt. Etwas lebendiger, wenn auch extrem langsam, betrachtete das lyrische ICH in einem anderen Gedicht die tägliche Geschäftigkeit einer Kleinstadt aus der Perspektive einer Schildkröte. Wenn seine Gedichte - wie hier - mit der Schlußpointe überraschten, dass "ein Jahrhundert in einem Katzengähnen" lag, knisterte gedankliche Anspannung im Raum. Das viel zitierte Fallen einer Stecknadel wäre zu hören gewesen. Nicht immer fiel indes der Groschen bei der mitunter stark chiffrierten Bildersprache, die doch neue Sichtweisen und die stark vernachlässigte Phantasie gleichermaßen anregte. So waren seine Zuhörer immer wieder in antike Lebenswelten zurückversetzt, wenn Grünbein "Ein merkwürdiger Gast an der Tafel bei Kaiser Nerves" rezitierte oder über offene Latrinen las. Gegen Ende seiner gekonnt vorgetragenen wie spannungsgeladenen Darbietung hieß es: "Das sarkastische Kind weiß, wie es ausgeht und kann das Staunen nicht lassen." Auf den Rest der Marburger Buchwoche, die am Sonntag (28. April) ihr Schlußkapitel schreibt, darf man gespannt sein. |