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Text von Samstag, 26. Januar 2002


Orientierungen: Ökumenegespräch über Europa

Marburg * (FJH)
"Erst kommt das Fressen und dann die Moral." Mit diesem Brecht-Zitat eröffnete Bürgermeister Egon Vaupel am Samstag (26. Januar) in der Aula der Alten Universität das VIII. Marburger Ökumenegespräch. Nachdem der Wohlstand in Europa weitgehend abgesichert ist, machen sich prominente Vertreterinnen und Vertreter aus Kirche, Politik, Gesellschaft und Wissenschaft nun auf die Suche nach gemeinsamen Werten.
1529 lud Landgraf Philipp von Hessen die zerstrittenen Vertreter des Protantismus auf das Marburger Schloss, um die Reihen dieser Bewegung zu schließen. Seit 1987 laden die Stadt Marburg, die Philipps-Universität, die Katholische und die Evangelische Kirche alle zwei Jahre zum Marburger Ökumenegespräch in die Alte Universität ein, um aktuelle Fragen von Politik und Gesellschaft unter theologischer Aspekten zu debattieren. "Orientierungen für Europa - der Beitrag der Kirchen" lautete diesmal der Titel der gut besuchten Veranstaltung.
"Und ewig dreut der Erbfeind", zitierte Rita Waschbüsch den Refrain eines alten Liedes. In ihrer Heimat - dem Saarland - sei der Einkauf im Nachbarland inzwischen alltägliche Selbstverständlichkeit. Nach zwei Kriegen sei Europa auf dem Weg der Einigung schon sehr weit vorangekommen. Darüber dürfe die Gerechtigkeit im weltweiten Handel ebenso wie Osteuropa nicht vergessen werden.
Es sei vornehmste Aufgabe der Kirchen, Gerechtigkeit und das Eintreten für den Wert menschlichen Lebens anzumahnen. Die Bundesvorsitzende des Beratungsvereins "Donum Vitae" sprach sich für ein Verbot des Stammzellimports und den uneingeschränkten Schutz auch des "embryonalen Lebens" aus.
Christen und die Kirchen seien gefordert, zu allen aktuellen Fragestellungen Position zu beziehen. Das griechische Freiheitsdenken müsse man dabei mit dem römischen Rechtsempfinden und dem jüdisch-christlichen Humanismus verbinden.
Die ehemalige Landtagsabgeordnete, Landtags-Vizepräsidentin, Sozialministerin und - von 1988 bis 1997 - Vorsitzende des Zentralkomittees der Deutschen Katholiken, beklagte sich über den weit verbreiteten Rückzug aus der Politik. In "Politikverdrossenheit" sieht sie einen "Verrat" an dem christlichen Auftrag, den eigenen Glauben in die Welt hinauszutragen.
Islamistische Fundamentalisten sähen - so Waschbüsch - in diesem Rückzug auf Individualismus und das "Lust-Prinzip" eine Schwäche Europas. Die Europäer hätten ihren Gott verloren und damit ihre Orientierung.
Nahtlos anknüpfen an diese Kritik konnte Joachim Gauck . Der ehemalige Pfarrer der Rostocker Marienkirche und langjährige Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR beobachtet sowohl im Osten wie auch im Westen eine fortdauernde Selbstentmächtigung: Die Einen nähmen alles hin,was die Obrigkeit ihnen vorsetzt; die anderen zögen sich frustriert zurück, weil "die ja doch machen,was sie wollen".
Weit verbreitet sei auch die Beschränkung auf den eigenen Spaß: "keine Lust, zu gestalten, aber furchtbar viel Lust auf Vergnügungen!" Er ließ die Frage offen, ob dieses Verhalten zu "Ermächtigung" oder zur "Selbstentmächtigung" führt.
Der Bürgerrechtler forderte die Menschen auf, Selbstbewusstsein zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen. "Wir haben nichts zu fürchten", betonte er, "Wahrheit und Freiheit müssen niemandem Angst machen."
Das Christentum basiere auf dem Grundprinzip der Hoffnung und nicht der Angst. Wer die Wahrheit und die Freiheit fürchte, der beharre auf einem Machtmonopol, das auf der Unterdrückung anderer Menschen beruhe. "Es ist einfacher, ein Wissensbesitzer zu sein als ein Wissenssuchender", meinte Gauck. Dies gelte nicht nur für viele Politiker, sondern auch für die Kirchenhierarchien. Demokratie bedürfe aber unbedingt der Auseinandersetzung selbstbewusster Individuen.
Klassensprecher in der Schule, Schülerzeitungen, Gewerkschaften, Betriebs- und Personalräte hielten viele für selbstverständlich. "Sie haben alles, aber Sie wissen es nicht", bemerkte Gauck. Für diese Werrte - die die Aufklärung auf dem Boden des Humanismus hervorgebracht habe, gelte es einzutreten.
Der Bürgerrechtler schloss seine Aufforderung mit einer ermutigenden Erfahrung: "Ich habe 1989 gelernt, dass es Spaß macht, sich für zuständig zu erklären und zu sagen: Wir sind das Volk!"


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